Voyeur
11. Januar 2017


Kinder haben im Artergut einen Schneemann gebaut. Der Grösse und Perfektion nach zu urteilen kann es auch ein eifriger Vater gewesen sein. Es ist ein Schneemann wie aus dem Bilderbuch, drei verschieden grosse Kugeln für Unterleib, Brust und Kopf. Er hat eine Rübennase, Augen, Mund und drei Knöpfe für den Mantel. Ein Zweig liegt am Boden, ist dies der abgefallene rechte Arm? Der Schneemann strahlt ein Selbstbewusstsein aus, als ob er wüsste, dass er bei vielen Betrachtern zu den schönsten Schneemännern gehören wird, die sie in ihrem Leben sehen. Während ich picknicke, betrachte ich das Treiben im Park: Zwei Mütter sind mit ihren Kindern gekommen, denn kein Hügel ist in der Stadt zu klein, um nicht von ihm zu Schlitteln; im Artergut reicht die Aufschüttung über dem Eingang in den Luftschutzbunker.

Der Schneemann dreht den schlittelnden Kindern unbeeindruckt den Rücken zu. Er lächelt und ist fröhlich, obwohl der Hochnebel Zürich fest im Griff hat, offenbar hat er ein kindliches Gemüt und freut sich bei jedem Wetter über den Schnee. Oder über mich – als ich ins Artergut kam, schien er mich zu grüssen, nun scheint er mich zu ignorieren. Ich folge seinem kalten Blick und sehe einen nackten Jüngling. Schneemann, bist du etwa schwul oder hast du Hermann Hallers Statue eines nackten Knaben zu einem Wettkampf, wer der schönere ist, herausgefordert? Die Statue stand bereits im letzten Sommer da und wird es im nächsten Sommer noch. Dennoch: Schneemann und Statue stehen sich in stummer Zweisprache gegenüber: Die Statute steht aufrecht und hat ihre Hände lasziv hinter dem Kopf verschränkt, der Schneemann reckt stolz seine Brust und hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

Grinsend fotografiere ich die Situation: Eine exhibitionistische Männerstatue und ein voyeueristischer Schneemann liefern sich mitten in der Parkanlage eines städtischen Jugendheimes, wo Mütter mit ihren Kindern schlitteln, ein Duell. Ich schliesse nicht aus, dass Kinder beim Bau des Schneemannes mitgeholfen haben. Geplant haben sie ihn kaum, in der Regel spielen hier kleine Kinder und keine Jugendlichen, zudem ist die Szene zu zweideutig eindeutig. Aber wie heisst es so schön: Honi soit qui mal y pense.

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