Mont Saint Michel
7. Juli 2011


Heute rollt die Tour weiter in die Normandie, die 6. Etappe durchquert Avranches, wo wir damals übernachtet und den Mont-Saint-Michel vom Jardin des Plantes aus ein erstes Mal erblickt hatten. Am D-Day war Avranches während der Operation Neptune heftig bombardiert worden, am nahegelegen Strand waren die Alliierten gelandet. Wir hatten eine Gedenkstätte besucht, bei der in der Ausstelllung auch Landungsboote gezeigt wurden, klein, eng, metallen, Überlebenschance als Soldat gleich null. Dass die Landung in der Normandie glückte, ist auf das Überraschungsmoment und die ungeheure Masse an Menschenmaterial, welches die Alliierten in die Schlacht werfen konnten, zurückzuführen. Dennoch ist es für mich unvorstellbar, mich in einem solchen Landungsboot auf Befehl in den sicheren Tod fahren zu lassen. Weshalb gelingt es den Heeresführern immer wieder, Menschen in sinnlose Schlachten zu schicken? Fügt man sich als Soldat fatalistisch in sein Schicksal? Flieht man und wird aufgegriffen, wird man wegen Fahnenflucht hingerichtet. Bei der Landung in der Normandie blieb immerhin die theoretische Möglichkeit, in der zweiten oder dritten Welle eingeteilt zu werden und mit dem Leben davonzukommen. – Lotterie um das Leben: Wer sagt, dass die Fahnenflucht nicht doch die Erfolg versprechendere Variante ist?


Von den historischen Kämpfen und Krämpfen kriegen die Fahrer im normannischen Sommerregen nichts mit. Die Etappe führt sie durch das Calvados weiter nach Lisieux. Bin zu müde, um die Aufzeichnung des Rennens noch mit einem Glas Calvados zu geniessen. Den ganzen Tag über kam ich nicht von der gestrigen Etappe los, nicht nur, weil die vielen Stürze zu reden gegeben haben; vor meinem geistigen Auge verschmolzen die Landschaftsbilder der Côtes-d’Armor mit meinen Erinnerungen, das Storyboard von «Trégastel/Ploumanac’h» verdichtete sich und lässt sich mit wenigen Ergänzungen zur Pariser Modeszene, dem bretonischen Druidenkult und den Personen (Pauling als Reporter? Reiner wohl als Computerspezialist!) zu einem packenden Thrillerplot umarbeiten. Die Geschichte hat immer noch Potenzial. Und sollte der Thriller dennoch dasselbe Schicksal wie der Comic erfahren, ist er noch immer ein guter Grund, Ferien für Recherche an Ort zu buchen. Die Aufzeichnung der Etappe durch das Calvados schaue ich mir morgen an, wenn sich die Tour nach Süden bewegt: Massif Central, Pyrenäen und die Alpen stehen an. Andere Orte, weitere Erinnerungen.

Den Buchumschlag von «Trégastel/Ploumanac’h»habe ich als Vision vor Augen.

Das letzte Bild, bevor ich den Fernseher in stiller Vorfreude auf die nächste Etappe abstelle, versetzt mich in helle Begeisterung: Aus der Helikopterkamera wird über ein Kornfeld auf das bunte Fahrerfeld gezoomt, das auf die nächste Ortschaft zufährt. Dahinter ein dunkler Wald, über dem sich gugelhupfartig ansteigend ein steinernes Dorf mit Kathedrale und Burg vor den schweren Regenwolken abhebt. «Solche Bilder kann man nur in Frankreich drehen», denke fasziniert, danach die Genugtuung, wieder einen Ort zu sehen, den man selber besucht, ja, die gezeigte Strasse, auf der das Peloton fährt, wenn auch in Gegenrichtung, schon einmal befahren hat. Und dann die Irritation: Die gezeigte Burg befindet sich doch nicht hinter einem Dorf mit angrenzendem Wald. Würde einem der Namen einfallen, wüsste man auch, wo sich das Feld gerade befindet.

Diese Silhouette, vor noch nicht allzulanger Zeit sah ich sie auf einem Plastiksack in einem Zürcher Schaufenster. Während ich mir den Kopf darüber zerbreche, wie die imposante Burganlage im Fernsehen heisst, steigt der Helikopter in die Höhe und der Kameramann fährt gleichzeitig mit dem Zoom zurück. Zwischen dem Wald und der Burg gibt es plötzlich Perspektive. Nach den Bäumen weitere Getreidefelder, dahinter Wiesen, Brachland und nasser, schmutziggrauer Sand, ehe die graublaue See folgt. Vom Festland führt ein Damm zur Burganlage im Meer, die steinern und grau sowohl ihren Feinden, den Jahrhunderten, der Tour de France als auch den Elementen trotzt: Le Mont St Michel.


 




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Trégastel/Ploumanac'h – 6. Juli
Bergpreise und U-Boote – 4. Juli
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Autounfall an der Tour de France – 10. Juli
Schlagzeilenlese #5 – 29. Juli
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